Heimleben III
Geschrieben von Ludwig M.Die Ansichtskarte
Bei der Suche nach Dokumenten fand ich kürzlich in einer alten Holztruhe auf dem Dachboden ein blau eingeschlagenes, schon etwas abgegriffenes Taschenbuch. Obwohl ich es viele Jahre nicht mehr in der Hand hatte, erkannte ich gleich das Tabellenbuch aus der Lehrzeit - in Fachkreisen "Friedrich" genannt - Ausgabe 1958. Wahrscheinlich hatte ich es als brauchbares Nachschlagewerk aufgehoben, aber nie genutzt.
Neugierig geworden, blätterte ich darin. Neben ein paar losen Zetteln, auf denen, mit fast kindlicher Handschrift physikalische Formeln notiert waren, lag zwischen den Seiten eine Ansichtskarte. Die Bildseite zeigte ein Passagierschiff auf dem Neckar. Nach dem noch gut leserlichen Poststempel wurde die Karte am 7.8.1962 beim Postamt U. aufgegeben, oder in einen seiner Briefkästen geworfen. Um die folgende Geschichte zu verstehen, ist der Hinweis auf mein damaliges Alter wichtig: ich hatte kurz vorher das 16. Lebensjahr vollendet.
Herr H., der Heimleiter in M., verteilte an uns gerichtete Post immer beim Abendessen um 18 Uhr im Speisesaal. Nachdem er eines Tages wie gewohnt, alle Briefe, Karten und auch ein paar Päckchen den Adressaten ausgehändigt hatte, trat er an unseren Tisch - wir waren zu viert - und sprach mich an: "Meld dich morgen beim Winkler". Das klang bedrohlich, auch wegen des Befehlstones mit dem er es aussprach. Rückfragen wie "warum" oder "weshalb" verboten sich damals von selbst. Deshalb blieb mir und den anderen am Tisch nichts anderes übrig, als Vermutungen anzustellen. Ich ging im Geiste die letzten Stunden und Tage auf mögliche Verfehlungen durch, konnte aber nichts finden, was nach meiner Meinung eine solche Vorladung gerechtfertigt hätte. Eine "Verfehlung" war damals schon, mit einer Zigarette in der Hand, oder aus einem Wirtshaus kommend, erwischt zu werden. Für einen ambitionierter Fußballer mit großen Plänen, der ich war, kam so etwas aber nicht in Frage.
Herr Winkler, Heimleiter H. sagte immer "der" Winkler, war unser von der Post bestellte Betreuer und wohnte im Heim K. Unter uns Lehrlingen war er nur der "Edi". Edi war nie gut auf mich zu sprechen. Zum einen, weil seine Fußballmannschaft des Heimes K., bei den Spielen zur Heimmeisterschaft immer gegen uns, die Mannschaft des Heimes M., verlor, und er mich als einen der Hauptschuldigen wähnte. Zum anderen habe ich ein paarmal unsere Rechte bei ihm eingefordert, wenn er wiedermal uns zustehendes Geld nicht auszahlen wollte, weil wir uns beim Anstehen unterhielten, ihm dies aber zu laut war. "Renitenz", oder was er dafür hielt, konnte er nicht leiden.
Ich ging also am nächste Tag mit unguten Gefühl zum Büro von Herrn Winkler, klopfte und trat nach Aufforderung ein. Er hatte mich erwartet, dass merkte ich an seiner Haltung. Die Schwere des vermutlichen "Deliktes" konnte ich in seiner Miene nicht lesen. Er nahm etwas vom Schreibtisch. Eine Ansichtskarte mit dem Foto eines Schiffes darauf. Nach der Aufforderung mich zu setzen, kamen seine Fragen: "Kennst du eine G. mit Vornamen? Wo hast du sie kennengelernt? Was hast dort gesucht? Was habt ihr zusammen gemacht?" Ich wusste sofort worum es ging und bekam einen heißen Kopf. Der Umgang mit Mädchen war uns nämlich auch nicht erlaubt. "Ja, ich kenne sie. Ich habe sie bei einem Besuch bei meiner Tante in C. kennengelernt." Er, in aufklärerischem Duktus: "Weißt du was passieren kann, wenn du mit einem Mädchen rummachst? Was machst du, wenn die(!) ein Kind bekommt? Dann hast du dir deine ganze Zukunft versaut." Ich hatte mit G. doch nur das Volksfest in C. besucht. Wir sind über den Platz spaziert, haben uns unterhalten, ein paar Fahrgeschäfte genutzt und dann unsere Adressen ausgetauscht. Nicht einmal geküsst haben wir uns zum Abschied; nur die Hände gereicht. Aber schon da hatte ich ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken, sie könnte mir an die Heimadresse schreiben.
Edi redete und redete. Was alles, weiß ich nicht mehr genau. Ob er mir den zukünftigen Umgang mit G. nicht mehr erlaubt, oder nur empfohlen hat, mich nicht mehr mit ihr zu treffen, kann ich nicht mehr mit Gewissheit sagen. Ich schämte mich und hatte ein schlechtes Gewissen. Nachdem er geendet hatte, gab er mir die Karte - die ja meine war - und schickte mich wieder an die Arbeit.
Im Treppenhaus las ich die Karte. Es waren Grüße von einer Reise mit einem Passagierschiff auf dem Neckar. Sonst nichts. Oder doch: Es grüßt dich d...e(!) G. Und noch etwas. Am Kartenrand stand: Bitte mir nicht schreiben.
Es gab also auch bei ihr zuhause einen "Edi". Ich sah und hörte nie wieder etwas von G.