Für uns Jugendliche der Endsechziger Jahre gab es noch keine Playstation oder stundenlanges herumdaddeln am Computer. Spielautomaten-Höllen waren auch noch nicht erfunden und Pokern gab es nur in verruchten Hinterzimmern oder verbotenen Ami-Kneipen. Aber Spielsucht ist anscheinend eine zeitlose Erscheinung und für uns gab es damals: Schafkopf.
So Anfang des dritten Lehrjahres wurde das in Rädda Barnen zur Seuche. Überall in den Aufenthaltsräumen wurde gekartelt was das Zeug hielt. Das ging direkt nach Feierabend los und endete -manchmal von einem kurzen Abendessen unterbrochen - erst zum Zapfenstreich. Und wenn es sein musste, wurde danach bei Dunkelheit noch fertiggespielt. An den Wochenenden begann die Zockerei direkt nach dem Frühstück und dann kamen locker zwölf Stunden Karteln am Tag zusammen.
Kopfschütteln oder gar Ermahnungen seitens der Heimleitung konnten leicht abgewehrt werden. Schließlich handelte es sich ja um ein altes fränkisches Traditionsspiel, es war nicht verboten, es war (und ist) in manchen fränkischen Gegenden sogar ein geheiligter Kult.
Die ganz Hartgesottenen verlagerten zeitweise ihre Spielerei ins "Nunnenbeck" und trafen sich dort direkt nach der Arbeit. Die Vorteile waren klar: Echte Wirtshausatmosphäre statt ungemütlicher Aufenthaltsraum, keine Störungen von Nichtspielern oder Heimleitung, man konnte rauchen und seine Bierchen trinken und man wurde auch nicht von lästigen Essenspausen unterbrochen. Den Zipfel Stadtwurst schob man sich als richtiger Kartler nebenher rein.
Beim Schafkopf ging es auch um Geld. Normalerweise, wie an fränkischen Wirtshaus-Karteltischen üblich, um Einsätze von 5 - 10 - 15 Pfennig. Im Nunnenbeck wollte man aber den erwachsenen Stammgästen imponieren und erhöhte die Einsätze um den Faktor 10, es ging dann um 50 - 100 - 150 Pfennige. Zum Schein natürlich nur, auf dem Heimweg wurde die Gewinn-/Verlustrechnung dann wieder auf ein Zehntel reduziert.
Im Endstadium gab es sogar die fiktive Erhöhung der Einsätze um den Faktor 100, ein Solo brachte dem Sieger demnach stolze 60 Mark ein. Damit kam aber auch das Ende der Nunnenbeck-Ausflüge, denn da wurde man von den Nebentischen her schon misstrauisch beguckt und bekam doch etwas Angst, wenn man was von "verbotenem Glücksspiel" und "Jugend von heute" murmeln hörte.
Aber die Spielsucht hatte da sowieso schon ihren Höhepunkt überschritten - es nahte ja irgendwann auch die Handwerkerprüfung, für die man ein bisschen was tun musste. Zum Abklingen der Seuche trug sicher auch bei, dass die täglichen ausgiebigen Wirtshausbesuche schwer in das Taschengeld-Budget einschlugen. Drei, vier Bierchen, eine "Stadtwurst mit Musik" und eine Schachtel Overstolz kosteten damals zwar nur gerade mal 5-6 Mark, aber das war für uns doch viel viel Geld. Und, wie an anderer Stelle schon beschrieben, Überziehungskredite gab es ja noch nicht.
Übrigens soll die Schafkopf-Sucht bei den Kartlern von damals keine bleibenden Schäden hinterlassen haben.
Was in Rädda Barnen auch gern gespielt wurde, war Schach, und da gab es sogar eine richtige und regelmäßig trainierte Heim-Mannschaft. Die wurde einmal sogar Dritter bei der Stadtmeisterschaft der Nürnberger Jugendwohnheime. Da spielten allerdings nur vier Mannschaften, und die vierte hatte schon nach dem ersten Turniertag aufgegeben.